»Weder die Texte des Rappers noch sein kontroverses Auftreten in der Öffentlichkeit stehen im Einklang mit dem Bildungs- und Erziehungsauftrag, den die Schulen erfüllen«
sagt die Sprecherin des hessischen Kultusministeriums, weil sie Haftbefehl für »keinesfalls geeignet [hält], eine Vorbildfunktion für adoleszente Personen zu erfüllen«.
Gleich vorweg: Wenn ich eine Lyrikanalyse von „069“ durchführen wollte, müsste ich erstmal ein Fremdwörterbuch bemühen – allerdings keins, wie es bei mir im Regal steht, sondern irgendwas wie brudiletten.de, denn dort habe ich zum Beispiel gerade gelernt, was ein „Azzlack“ ist. Nachdem ich eine ganze Weile mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet habe, deren Herz ich gewinnen konnte, indem im Kunstunterricht auch mal Capital Bra im Hintergrund lief und von denen ich meistens wusste, was gerade angesagt war, kann ich von meinen Gymnasiast*innen nicht mit Sicherheit sagen, bei wem von ihnen „Baba Hafti“ aus Kopfhörern und Lautsprechern dröhnt. So läge es eigentlich nahe, die privilegierten Brille der Lehrkraft an einem bayerischen Landgymnasium ganz vorn auf die Nase zu setzen, darüber zu schauen und dem Kultusministerium beizupflichten (auch wenn es das hessische ist): Das (also seine Texte) passt nicht zu unserem Bildungs- und Erziehungsauftrag, das hat keinen Vorbildcharakter, das hat im Lehrplan nix verloren und muss auch keine Rolle in meinem Unterricht spielen! Frischauf, zurück zu Kafka – guten Gewissens und im Einklang mit dem humanistischen Bildungsideal.
Ganz abgesehen davon, dass ich auch die Vorbildhaftigkeit in Kafkas Literatur seit meiner eigenen Schulzeit suche1, muss ich in der kommenden Woche nach den Herbstferien ja nicht nur Deutsch unterrichten, sondern auch Politik und Gesellschaft… Und diesen Lehrplan juckt die Vorbildhaftigkeit möglicher Protagonisten ja mal so gar nicht2, denn es steht darin unter anderem geschrieben:
PuG13 Lernbereich 1: Modernisierungsprozesse und ihre Auswirkungen auf das Zusammenleben in Deutschland reflektieren
- Geschlechterrollen im Wandel: Hierarchien zwischen den Geschlechtern, Emanzipation […]
- Definition von Sexismus
Na, wenn das mal nicht passt… zwar eher zu den Forderungen der Schüler*innen aus Offenbach, aber… wer wäre ich, den Lehrplan zu missachten?
Falls ihr auch gerade noch auf der Suche seid, wie man dieses Thema machen (oder Haftbefehl gewinnbringend in den Lehrplan bringen könnte), ist hier meine kleine Zusammenstellung aus Material und Leitfragen für eine kleine Unterrichtseinheit von maximal zwei Stunden zum Thema Geschlechterrollen am Beispiel der medialen Rezeption von „Babo – Die Haftbefehl-Story“:
- Trailer anschauen
- Vorwissen sammeln: künstlerisches Wirken, Drogensucht, Rezeption, Unterscheidung zwischen Künstler und Privatperson3
- Text von Katharina Moser bei „Musikexpress“ lesen & Leitfragen beantworten:
- Charakterisieren Sie die Paarbeziehung von Nina und Aykut Anhan anhand von beispielhaften Ereignissen aus deren Leben.
- Beschreiben Sie die Reaktionen der Öffentlichkeit auf Nina Anhans Rolle in der Dokumentation.
- Erläutern Sie, welche Aspekte der Rezeption durch die Zuschauer im Text kritisch beleuchtet werden.
- Zeigen Sie auf, welche Rolle gesellschaftliche Rollenbilder für die Biografie von Aykut Anhan und für die Paarbeziehung spielen.
- Diskutieren Sie, wie die Geschichte gesellschaftlich rezipiert werden würde, wenn die Rollenverteilung umgekehrt wäre, es also um eine drogensüchtige berühmte Künstlerin und deren Ehemann sowie die gemeinsamen Kinder ginge.
- Abschließend Zitate aus dem Text diskutieren:
- „Aber dass die Stärke einer Frau auf ihre Fähigkeit reduziert wird, für ihren Mann zu leiden, ist aus feministischer Sicht verheerend.“
- „Dürfen wir der gefühlten Romantisierung der emotionalen Belastung einer Frau durch ihren Mann derart Raum geben, wie es gerade geschieht?“
- „Und es wird Zeit, dass unsere Gesellschaft lernt, diese Unterscheidung zu treffen. Zum Zwecke einer Welt, in der Frauen wie Nina Anhan in Dokumentationen nicht mehr die Tränen vom Gesicht wischen müssen – und in der ein junger Aykut Anhan nicht mehr den Schmerz erfahren muss, der ihn für so viele Jahre so sehr leiden ließ.“
Nächste Woche gucken wir uns dann vielleicht sogar noch diese Doku über Andrew Tate an… auch kein Vorbild, sicher nicht. Aber: Nur über Vorbilder zu reden, blendet Realitäten aus.
Ob ich Haftbefehl-Texte im Unterricht analysieren würde wie andere Gedichte? Das wiederum steht natürlich auf einem anderen Blatt. Erstens, weil es aus literarischer Perspektive weit spannendere Deutschrap-Texte gibt als das, was ich bei einem Fall ins Haftbefehl-Rabbithole auf die Schnelle entdecken konnte.
Und zweitens? Hat sich sogar unsere Gallionsfigur Goethe mit vielen Dingen beschäftigt, in denen er heute ganz eher nicht mehr als Referenz dienen sollte… zumindest hörte ich, die Naturwissenschaft habe sich seit 1832 weiterentwickelt.
Worin die Vorbildwirkung für adoleszente Personen besteht, wird schließlich nicht nur durch deren individuelles Urteil, sondern auch durch den didaktischen Rahmen bestimmt, in den wir Lehrkräfte ein Thema einbetten, und vor allem durch den bestenfalls im Anschluss daran stattfindenden Aushandlungsprozess unter jungen Menschen, die die Zukunft unserer Gesellschaft formen werden und die – so meine anekdotische Evidenz – durchaus zur kritischen Auseinandersetzung in der Lage sind.
- Wobei ich mit diesem Simpsons-Ausschnitt diesmal immerhin einen sehr hübschen Diskussionsanlass haben werde… ↩︎
- Ich mein, es geht darin auffallend oft um Politiker*innen und Reinhard Mey sollte nicht nur mit „In meinem Garten“ in die Charts zurückkommen… 😉 ↩︎
- Zum Einlesen, wenn du bisher wenig mitbekommen hast: https://www.ndr.de/kultur/film/haftbefehl-doku-elendsporno-trifft-es-ganz-gut,haftbefehl-108.html ↩︎



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