Demokratiebildung für Lehrkräfte: Alles ist politisch.

Blogparade 2025 #2

Vorbemerkung: Eine Reihe von bildungsaffinen Blogger*innen hat sich zum Ziel gesetzt, 2024 und 2025 häufiger thematisch gemeinsam zu bloggen. Die Themenvorschläge werden an dieser Stelle gesammelt, alle Beiträge zum aktuellen Thema sind unter dem Beitrag zu finden. Zusätzlich hat Susanne Posselt eine beschreibbare Taskcards-Pinnwand erstellt. Die gibt’s hier.

Bereits veröffentlichte Beiträge: Frau Kreis

Wenn wir über Schule und Politik sprechen, dann geht es häufig um das vermeintliche Neutralitätsgebot, das keines ist, denn wir alle begreifen das Grundrauschen der demokratischen Praxis nur zu gerne als Selbstverständlichkeit statt als Privileg. Dabei rückten die Gegenbeispiele der autoritären Regime in den letzten 10 Jahren, die ich diesen Job nun mache, Schritt für Schritt näher: Wir realisierten allmählich, wes Geistes Kind die Herrschaft Putins1 ist. Wir sahen Orbans Ungarn die Grenzen der EU immer wieder austesten. Wir sahen Bolsonaro in Brasilien den Regenwald abfackeln2, Chinas Drohgebärden in Richtung Taiwan sich häufen und wie die älteste Demokratie der Welt einen Reality-TV-Star zum Präsidenten machte, der trotz eines versuchten Staatsstreichs jetzt wieder an der Macht ist und gemeinsam mit seinem illegitimen Dogen bestens vorbereitet ans Werk geht, um diesmal nicht zu scheitern.3

Das Gefühl der brennenden Welt liegt aktuell doch recht nah…

Um diese komplexe Welt von Grund auf zu verstehen, wie wir es den Kindern und Jugendlichen der aktuellen und folgenden Generationen dringend wünschen sollten, damit sie in die Lage versetzt werden, deren Herausforderungen zu meistern, sind ein bis zwei Stunden Politikunterricht pro Woche zu wenig (und in der 10. Klasse damit anzufangen, wie wir es am Gymnasium tun, ist reichlich spät4). Versuchte man es und zöge sich als Politiklehrkraft den Schuh der Verantwortung allein an, man wäre zum Verzweifeln verurteilt. Umso mehr begrüße ich es, dass es in Bayern seit diesem Schuljahr die Verfassungsviertelstunde gibt, die mittelfristig dazu führen soll, dass in allen Jahrgangsstufen wöchentlich in 15-minütigen Einheiten über die zentralen Inhalte des Grundgesetzes und der bayerischen Verfassung gesprochen werden soll. Die Fakultas der Lehrkräfte spielt dabei keine Rolle, alle kommen mal an die Reihe und so soll sich die Verantwortung für die Demokratie auf mehr Schultern verteilen als auf die der (an meiner Schule gerade mal drei Kolleg*innen in der) Fachschaft.

Wie alle Neuerungen stößt die Verfassungsviertelstunde nicht nur auf Gegenliebe. Neben dem offensichtlichen Argument des Verlusts von Unterrichtszeit fühlen sich viele Kolleg*innen, gerade wenn es um die Diskussionen mit älteren Jahrgangsstufen geht, inhaltlich nicht gewappnet. Ich kann es nachfühlen, denn eine biologische oder musische Viertelstunde in einer 11. Klasse würde mir durchaus etwas abverlangen. Trotzdem oder gerade deswegen ist es an der Zeit, die volle politische Dimension unseres Berufs zu erfassen und die Verfassungsviertelstunden zu nutzen, um die Wirkung der Demokratie auf unser Leben aus allen möglichen Perspektiven zu begreifen statt aus Sorge vor dem Nichtwissen ab und zu mal banale Lückentexte auszufüllen, um der Vorgabe des Dienstherrn genüge zu tun.

Im Folgenden möchte ich daher den Allgemeinplatz „Alles ist politisch“ illustrieren, der die Grundlage dafür bildet, Demokratiebildung betreiben zu können. Ich möchte begreiflich machen, was mit der Demokratie auf dem Spiel steht an jedem einzelnen Tag, an dem wir darauf angewiesen sind, dass diejenigen, die Macht ausüben, dies verantwortungsvoll und unter Beachtung der Spielregeln tun, ohne dass sie ein Gericht davon abhalten muss. Anschließend, also in den kommenden Wochen und Monaten, möchte ich in weiteren Artikeln bzw. den Kapiteln eines Selbstlernkurses gerne etwas inhaltliche Nachhilfe anbieten.

Wir beginnen jetzt aber erstmal mit der politischen Dimension des Systems, für das wir arbeiten und werden uns anschließend den Inhalten, mit denen wir arbeiten, zuwenden. Weil sich der Wert der Demokratie – wie bereits erwähnt – meist nur über ihr Gegenteil erschließen lässt, werde ich mich – inspiriert von Margaret Atwood5 – auf historische und gegenwärtige Negativbeispiele stützen.

Dass wir unterrichten

Die größte Selbstverständlichkeit, die das System der Verbeamtung mit sich bringt, ist die Unkündbarkeit derer, die sich diesen Status einmal gesichert haben. Wie politisch dieser Status sein kann, zeigt sich in aktuellen Gegensätzen: Während eine Klimaaktivistin in Bayern gerade vom Vorbereitungsdienst ausgeschlossen wurde, fiel das Gerichtsurteil für einen Feuerwehrmann wegen Vergewaltigung wohl milde aus, damit dieser seinen Status nicht verliert. Zugleich darf Björn Höcke zwar gerichtsfest als „Faschist“ bezeichnet werden, er ist vom hessischen Staatsdienst als Lehrkraft für Geschichte und Sport aber weiterhin nur beurlaubt.

Dass die einmal erreichte Unkündbarkeit aber abhängig davon ist, dass der Staat, der unser Vertragspartner ist, in seiner Form unverändert besteht, ist ein „Was wäre wenn…?“, um das man sich seit 1949 in (West-)Deutschland quasi keine Gedanken machen musste. Historische Beispiele wie das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“6 sind ebenso wie die gerade laufende Entlassungswelle bei der US-Entwicklungshilfebehörde USAID7 allerdings eindrückliche Belege dafür, dass es „nur“ eines ausreichenden Maßes an Skrupellosigkeit bedürfte, um die Spielregeln zu verändern.

Wie sehen die Lehrer*innenzimmer in autoritären Staaten aus? Braucht man Menschlichkeit dann überhaupt noch oder tut es eine KI in einem Sprachlabor-ähnlichen Setting?

Wer sich darüber noch nie Gedanken gemacht hat und nun mit einem gewissen Ohnmachtsgefühl vor meinen Ausführungen steht, der sei zuerst daran erinnert, dass der Rechtsstaat, in dem wir leben und unterrichten, genau dafür gemacht ist, diese Form des Unrechts nicht zuzulassen. Nichtsdestotrotz ist gerade die Loyalität der Beamt*innen zur Verfassung8 ein wichtiger Schlüssel für die Machtausübung. Dies wird wiederum eindrucksvoll durch die aktuell laufenden Maßnahmen der Trump-Regierung belegt, die durch die Diskreditierung des Beamtentums mit der Verschwörungserzählung vom „Deep State“ bei ihren Anhängern bereits seit Jahren für das Gefühl der Notwendigkeit radikalster Maßnahmen gesorgt hat.

Wen wir unterrichten

Blicken wir auf die andere Seite des Pults, darf nicht unerwähnt bleiben, dass auch die Frage danach, wen wir unterrichten bzw. wer Unterricht erhalten darf, eine hochpolitische ist, über die wir uns von der Selbstverständlichkeit der allgemeinen Schulpflicht (die auch erst 106 Jahre alt ist) und des Menschenrechts auf Bildung leicht hinwegtäuschen lassen: Der Fingerzeig auf das unter den Taliban vermeintlich ins finstere Mittelalter der Geschlechterdiskriminierung zurück katapultierte Afghanistan fällt leicht, dabei war doch auch in Deutschland gerade noch 1977 und die Hausfrauenehe wurde abgeschafft.9 Bis heute gilt das Ziel der Geschlechtergerechtigkeit auch in Deutschland zwar in rechtlicher Hinsicht als verwirklicht, in der Realität aber noch nicht als erreicht. Von der allgemeinen Personenwertgleichheit wie sie die Charta der Vereinten Nationen als Ziel vorgibt, ganz zu schweigen. (Man denke nur an die Diskussionen um Inklusion im Zuge der UN-Behindertenrechtskonvention!)

Daneben sind auch ausgleichende Maßnahmen im Hinblick auf den sozioökonomischen Status unserer Schüler*innen wie beispielsweise „Bildung und Teilhabe“ natürlich ein politisches Instrument, das maßgeblich mit dem Sozialstaat – einem der Staatsstrukturprinzipien der BRD (Art. 20 GG) – verknüpft ist.

Wie vielfältig deine Schüler*innenschaft ist, kannst du dir sicher besser vorstellen, als es die KI kann… Das meiste von dem, was ihre Vielfalt ausmacht, kann man sowieso auf Momentaufnahmen nicht sehen.

Was wir unterrichten

Wenn wir uns die politische Dimension unserer Unterrichtsinhalte ansehen, erscheint es mir am einfachsten, diese zuerst für den Geschichtsunterricht zu belegen, reißen doch die Forderungen nach einer erinnerungspolitischen Wende, also dem Ende des Erinnerns an den Holocaust10, nicht ab. Aber die Politik in der Geschichte reicht noch viel tiefer: Welche Geschichten erzählen wir? Und wie erzählen wir sie?11 Ginge es beispielsweise nur noch um Hegemonie statt Diplomatie, gäbe es keinen Grund mehr, die Perspektiven der anderen einzunehmen – nicht einmal in der Literatur, in der wir doch in jüngster Vergangenheit die für unsere ganz unterschiedlichen Schüler*innen positive Entwicklung der Diversifizierung von Protagonist*innen beobachten durften. (Dass auch Grammatik politisch ist, stelle ich natürlich mit dem konsequenten Gendern dieses Textes unter Beweis, denn dieser Blog ist mein Privatvergnügen.)

Auch auf welche Länder wir unseren Blick richten, ist natürlich ein hochpolitisches Thema, das sich nicht allein im Politikunterricht erschöpft, im Gegenteil: Welche Fremdsprachen die Kinder lernen und welches landeskundliche Wissen sie dabei erwerben, hängt immer auch von (strategischen) Partnerschaften ab.12

Ich habe schon fast den Überblick verloren, was alles zum 51. Bundesstaat werden sollte: Kanada oder doch lieber Grönland? Werden wir, wenn dies wirklich spruchreif werden sollte, anders darauf reagieren als auf Schlagworte wie „Abchasien, Südossetien, Transnistrien, Krim oder Donbass“?

Welche Projektion (oder fachlich korrekter: Welcher Kartennetzentwurf?) prägt unser Bild von der Welt, weil sie bevorzugt in den Geographie-Büchern abgedruckt wird? Nennen wir den Golf von Mexiko „Golf von Amerika“, weil der amerikanische Präsident dies will und Google Maps es in vorauseilendem Gehorsam umsetzt, obwohl es im geographischen Nationalheiligtum, dem Diercke Weltatlas noch anders steht?

Welche wirtschaftlichen Verflechtungen werden in den Blick genommen? Beruhen sie auf dem Verständnis der Partnerschaft oder geht es schlicht darum, den besten Deal zu machen?13 Lernen die Schüler*innen, wie sie im Zweifelsfall Recht bekommen oder nur, an welches Recht sie sich zu halten haben?

Wie viel Macht in den Lehrplänen steckt, wie sehr sie den Blick auf die Welt prägen können, wurde und wird vielleicht noch im Gespräch mit denen deutlich, deren Schulzeit sich vollständig während des Nationalsozialismus abspielte. Die Schulzeit meiner Großmutter, Jahrgang 1930, bestand maßgeblich aus Rechnen und Diktaten (und der Präsenz gewalttätiger „Erziehungs“methoden). Zeitlebens hatte sie kein Verständnis dafür, dass mir Mathematik irgendwann begann schwerzufallen, war doch das komplexeste, was sie je in der Schule berechnet hatte, „Radius mal Radius mal drei Komma vierzehn“. Aber dass die Schulzeit für sie nach der achten Klasse beendet sein würde, war ebenso unhinterfragbar und selbstverständlich wie es nicht dem politischen System zugeschrieben wurde, dass das „Fräulein“, welches sie damals unterrichtete (und für die noch das Lehrerinnen-Zölibat14 galt!), Methoden anwendete, welche heutigen Vorstellungen von Menschenwürde widersprechen.

Damit sind wir nicht nur wieder bei der Frage nach der Geschlechtergleichheit, sondern auch bei der Frage danach, wie viel Transparenz und Widerspruch ein politisches System sich leisten will. Je höher dieser Wert ausfällt, desto höher kann auch der Bildungsgrad ausfallen, den die Bürger*innen darin erreichen dürfen bzw. für dessen ökonomischen Erfolg sogar sollten.

Manchmal beneide ich Lehrkräfte der Naturwissenschaften darum, dass ihre Wahrheiten weniger in Frage gestellt werden als Begriffe und Definitionen meiner Disziplinen… 😉 Aber ein besseres demokratisches Training als Schüler*innen, die ihre Meinungsfreiheit wahrnehmen, kann man sich gar nicht vorstellen…

Allen Naturwissenschaftler*innen, die sich bisher vielleicht beruhigt zurückgelehnt und das mit der Politik allein auf die Sprachen und Gesellschaftswissenschaften bezogen haben, muss ich die Suppe leider auch noch versalzen: Am offensichtlichsten ist hier wohl aktuell die Wissenschaft der Biologie im Fokus, deren Erkenntnisse ja bereits durch sozialdarwinistische Weltanschauungen wie der des Nationalsozialismus missbraucht worden sind15 und die auch aktuell wieder als Beleg gegen LGBTQ+ instrumentalisiert werden sollen. Die Berufung des Impfgegners und Verschwörungsgläubigen Robert F. Kennedy Jr. ins amerikanische Gesundheitsministerium16 zeigt aber gleichzeitig, wie viel mehr an Diskreditierung wissenschaftlicher Erkenntnisse denkbar ist, wenn der Staat nicht innerhalb der Leitplanken für faktenbasiertes Handeln agiert.

Hätte ich selbst noch vor ein paar Wochen gedacht, zumindest die Mathematik in einer solchen Aufzählung außen vor lassen zu können, hat mich die Beschäftigung mit Murray Rothbard, Vordenker des Paläokonservativismus bzw. der paläolibertären Bewegung17, gelehrt, dass auch das naiv wäre, ist er doch mit der mathematikskeptischen Österreicher Schule verknüpft, die den Wert historischer und empirischer Erkenntnis an sich in Frage stellt und stattdessen die Subjektivität zur Doktrin erhebt. 🤯

Damit blieben uns die Fächer Sport, Musik und Kunst, die allein schon wegen ihres praktischen Charakters politisches Potenzial haben, weil man durch ihre Streichung den Schüler*innen etwas wegnehmen kann, was sie in den anderen Fächern nicht finden können, nämlich Ausdrücke der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Der Sportunterricht ist nicht nur politisch, wenn er zur Wehrsportübung wird. In ihm steckt auch das durchaus positive Potenzial, die Körperwahrnehmung zu fördern und uns die Welt dadurch etwas weniger rätselhaft und geheimnisvoll und die Menschen frei und unabhängig zu machen.18

Instant-Ohrwurm: „Don’t you know: I’m talking about a revolution…“

Dies setzt sich in der Musik und in der Kunst noch fort: Dass die Nazis Werke als „entartet“ brandmarkten, Bücher verbrannten und ihre Favoriten auf Gottbegnadetenlisten verewigten, um ihr Weltbild auch durch die Kunst nicht hinterfragen zu lassen, mag hinreichend bekannt sein. Denn natürlich besteht in jeder Kunstform disruptives Potential: In Protestsongs von „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ bis „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“. In der sensibilisierenden Erzählkraft der dystopischen Literatur oder in den utopischen Traumwelten, die uns ein einzelnes Bild zu eröffnen vermag. Ob die Werke diese Kraft allerdings entfalten können, hängt immer auch davon ab, ob sie ihrem potentiellen Publikum bekannt sind oder vor dessen Augen verbannt werden wie Bücher aus amerikanischen Schulbibliotheken.

Und so ist es nicht nur von politischer Wirkung auf unseren Alltag, dass wir Kunst- und Wissenschaftsfreiheit haben. Sondern es bedarf auch unserer Achtsamkeit, dass die Freiheit der Wissenschaft niemals ohne die Pflicht zur Wissenschaftlichkeit kommen kann. Sonst karikiert sich – wie im Falle der oft unreguliert homeschoolenden Kreationisten der USA – die Wissenschaftsfreiheit selbst, indem sie die Schöpfungsgeschichte zur Wahrheit erklärt, die Evolutionstheorie trotz aller Belege aus den Schulen verdrängt19 und damit der göttlichen Legitimierung von Herrschaft, die wir mit dem Gottesgnadentum des Absolutismus und der Erbmonarchie überwunden geglaubt hatten, erneut Tür und Tor öffnet.20

Die Evolution der KI ist noch nicht so ganz fortgeschritten, wenn ich mir diese „Tiere“ so angucke…

Epilog: Bitte seid politisch!

Natürlich mündet alles in der Frage danach, wie politisch der Politikunterricht ist bzw. wie viel Demokratie durch die Limitierung der verfügbaren Zeit (am bayerischen Gymnasium 5 Wochenstunden in den Jahrgangsstufen 10-12) überhaupt möglich wird, denn das Bewusstsein für die Demokratie und vor allem die Mitwirkung daran müsste dringend in Diskussionen und Plan-/Rollenspielen eingeübt und nicht nur in der Theorie betrachtet werden.

Diese Notwendigkeit lässt sich – als einzige Ausnahme vom vorher definierten Prinzip – am besten an einem literarischen Beispiel illustrieren: Zumindest fällt mir dafür keine bessere Szene ein als der Streit zwischen Professor Umbridge und ihren Schüler*innen, als erstere in „Harry Potter und der Orden des Phönix“ den Unterricht in „Verteidigung gegen die dunklen Künste“ nur noch theoretisch abhält, da sie der Meinung ist, dass es nichts gäbe, wogegen man sich praktisch verteidigen müsse, obwohl der Zeuge für die Wiederkehr des „Dunklen Lords“ Voldemort mit Harry Potter im Raum sitzt.

Wenn ich mir also als Politiklehrerin etwas wünschen darf, dann ist es, dass ihr, die Kolleg*innen aller anderen Fachdisziplinen, uns mit dieser Mammutaufgabe der politischen Bildung, der Demokratiebildung, nicht allein lasst. Dass ihr die Gelegenheiten nutzt, in der Verfassungsviertelstunde oder im Alltag in euren Fächern aufzuzeigen, dass sie – entgegen aller demokratischen Gemütlichkeit, die wir genießen dürfen, weil die Menschenrechte für uns gelten und der Rechtsstaat ganz ordentlich funktioniert – wie alles in unserem Leben eine politische Dimension haben.

Ich könnte noch ewig weitermachen mit den Begründungen: Wir können nämlich gar nicht oft genug von der Politik Ressourcen für gute Bildung fordern, solange die Wasserhähne tropfen und die Schultoiletten verstopft sind, während wir dem Aufbau unserer eigenen Medienkompetenz jeden Tag hinterherrennen, weil die unregulierten technischen Entwicklungen in Lichtgeschwindigkeit passieren und es immer mehr Fragen bedarf, die man stellen muss, um die Welt wirklich verstehen zu können.

Freiheit, Symbolbild.

Aber ich will nicht mit dem Negativen schließen, denn eigentlich haben wir in unserer Verfassung alles, was wir brauchen: Das Recht auf Bildung, Wissenschaftsfreiheit, Informationsfreiheit und Meinungsfreiheit. Für sie einzustehen ist keine Parteipolitik, sondern die folgerichtige Position aus unserem geleisteten Verfassungseid.

Wenn wir also „Freiheit“ nicht sagen, ohne auch „Einigkeit“ und „Recht“ zu sagen21, wenn wir unsere Verantwortung innerhalb des Systems und für dessen Gestaltung begreifen, stehen wir nicht nur auf einem soliden Grund, um Demokrat*innen zu sein. Wir haben auch nach wie vor wirklich gute Bedingungen, Demokrat*innen zu bilden.

Danke von Herzen für euren Beitrag.

Kristina

PS: Aufmerksamen Lesenden mag aufgefallen sein, dass keines meiner Beispiele (abgesehen vom Sozialdarwinismus-Aspekt) auf Mitglieder der LGBTQ+-Community oder Menschen mit Migrationshintergrund abzielt. Das ist Absicht, denn es verleitet gerade Angehörige der weißen Mehrheitsgesellschaft dazu, sich das Problem nicht zu eigen zu machen, weil man ja ohnehin nicht selbst betroffen sei (vgl. Othering). Das ist Bullshit. Denn Demokratie gibt es entweder für alle oder für keinen:

Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler.

Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.

Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.

– Martin Niemöller


Fußnoten

Die Bilder innerhalb des Beitrags habe ich mit „Magic Media“ in Canva generiert, um euch geneigten Leser*innen ein bisschen optische Abwechslung innerhalb dieses Longreads zu verschaffen. 😉

  1. Einen guten Überblick darüber, was den sogenannten Putinismus ausmacht, gibt dieser Artikel der DW. ↩︎
  2. Was neben seiner Misogynie, Homophobie, seinem Rassismus und der Verharmlosung von Corona und der Militärdiktatur nur die Spitze des Eisbergs war. ↩︎
  3. Kluge Analyst*innen wie auch Annika Brockschmidt überrascht das, was in den USA gerade passiert, nicht. Umso drängender ist die Frage, ob die seit 1776 bestehende Demokratie gut genug gewappnet ist, um die Angriffe auf sie zu überstehen oder ob man 1949, als man als alliierte Besatzungsmacht Deutschland zur Überwindung des NS und Demokratisierung verhalf, auch in der eigenen Verfassung bessere Sicherungsmechanismen hätte einbauen sollen. ↩︎
  4. An dieser Stelle sei ausdrücklich der Ansatz des Mittelschul-Lehrplans gelobt, die Politik ab der 5. Klasse altersgerecht im Fächerverbund GPG unterrichten und damit Ereignisse wie die Klassensprecher*innenwahl ganz selbstverständlich vom Wissen um demokratische Grundprinzipien begleiten zu lassen. ↩︎
  5. Beim Verfassen der Dystopie „The Handmaid’s Tale“ achtete Atwood darauf, dass das Schreckensregime Gileads nicht etwa auf fantastischen Elementen beruhte, sondern sie kompilierte die Merkmale des schon Dagewesenen zu einer mehr als beunruhigenden Fiktion, die aber nicht auf alle Mächtigen abschreckend zu wirken scheint. ↩︎
  6. Der Titel dieses Gesetzes, welches am 7. April 1933 (also nur weniger als zweieinhalb Monate nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler) erlassen wurde, ist irreführend, denn es diente dem Ziel, Juden, Menschen jüdischer Herkunft und politisch unerwünschte Personen aus dem Staatsdienst zu entfernen. Damit ist es ein prominentes Beispiel dafür, dass das, was Recht ist, nicht immer Recht bleibt. ↩︎
  7. Der Mitarbeitendenstab soll von 10.000 auf 300 reduziert werden, was nach dem heutigen Stand von einem Gericht aufgrund der mangelnden Verfassungskonformität gestoppt wurde. Die aktuellen Pläne hätten freilich nicht nur Auswirkungen darauf, dass die Angestellten entlassen werden, sondern würden auch das internationale Gefüge massiv verändern, da die Hilfen für andere Nationen eingestellt werden sollen. Fahren Trump und Musk mit ihrer als „Entbürokratisierung“ geframten Umsetzung des Project 2025 fort, ist davon auszugehen, dass im Mittelpunkt ihres Interesses die Zerschlagung des Departments of Education stehen wird. ↩︎
  8. Was im Falle regelmäßiger demokratischer Wahlen und Regierungswechsel eben NICHT gleichbedeutend mit Loyalität zur Regierung sein muss. ↩︎
  9. Dass sie damit noch lange nicht vom Tisch ist, zeigt nicht nur der Tradwives-Trend auf Social Media-Plattformen, sondern auch das AfD-Programm, welches allein die „traditionelle Vater-Mutter-Kind-Familie“ fördern möchte. (Nein, denen verschaffe ich nicht durch einen Link auch noch Reichweite.) ↩︎
  10. Sehr bekannt ist in diesem Zusammenhang die Äußerung von Björn Höcke im Januar 2017, weit aktueller und aufmerksamkeitserregender war aber Elon Musks digitaler Auftritt beim AfD-Parteitag, bei dem er die Deutschen aufforderte, vergangene Schuld hinter sich zu lassen. Dass er den Unterschied zwischen Schuld und Verantwortung nicht verstanden hat, wozu eigentlich Neuntklässler*innen hervorragend in der Lage sind, könnte ich jetzt hier lang und breit ausführen, ich bin aber der Meinung, dass der Hitlergruß, den er wenig später bei der Inaugurationsparade von Trump zeigte, für sich spricht. ↩︎
  11. Hierzu kann ich „Erzählende Affen“ von Samira El-Ouassil und Friedemann Karig nur empfehlen. ↩︎
  12. Das beste Beispiel dafür ist, dass Angela Merkel durch ihr Aufwachsen in der DDR über Russischkenntnisse verfügt, während diese Sprache nicht auf dem Lehrplan der im Westen aufgewachsenen Kanzler gestanden haben dürfte. ↩︎
  13. Ein Beispiel sind die aktuellen Verhandlungen zwischen der Ukraine und den USA, in denen es vereinfacht gesagt um den Austausch von seltenen Erden gegen militärische Hilfen geht, vgl. ZDF heute. ↩︎
  14. Die endgültige Streichung erfolgte sogar erst 1951. ↩︎
  15. Dass dieser wieder in Mode kommt, belegen beispielsweise die Begründungen Jugendlicher bei Angriffen auf Obdachlose, wie das Dossier der bpb zu berichten weiß. ↩︎
  16. Kaum hatte ich das geschrieben, erreichte mich die Nachricht, dass Impfskepsis nicht genug ist: Statt Impfpflicht gibt es in Idaho durch den auf Falschbehauptungen beruhenden vaccine ban des Covid-Impfstoffes von Pfizer nun quasi ein Impfverbot, wie die Washington Post berichtet. ↩︎
  17. In diesem Vordenker laufen übrigens die Fäden von Musk bis Bolsonaro und Milei, von Sellner bis AfD zusammen, wie der verlinkte ZEIT-Artikel eindrucksvoll belegt. ↩︎
  18. Auch in diesem Bereich fühlte es sich zunächst so an, als müsse ich ins „finstere Mittelalter“ zurückgehen, um Gegenbeispiele zu finden. Pustekuchen, der gesellschaftliche Umgang mit AIDS genügt vollkommen als Beispiel dafür, dass es bis heute Organisationen gibt, die die Stigmatisierung Erkrankter der wissenschaftlichen Untersuchung vorziehen. ↩︎
  19. Dass dies schon seit Jahrzehnten ein Problem ist, belegt dieser SPIEGEL-Artikel aus dem Jahr 2005. ↩︎
  20. Auch hier muss wiederum Donald Trump als Beispiel genannt werden, der seiner treuen evangelikalen Wählerschaft als von Gott gesandte Erlöserfigur gilt, was die Wahrscheinlichkeit, dass sie seine Handlungen kritisch hinterfragen werden, gegen Null tendieren lässt. ↩︎
  21. Geklaut aus dem Schlusswort des „ZDF Magazin Royale“ am vergangenen Freitag, den 07.02.2025, dessen Actionfigur „Grundi“ übrigens auch das Titelbild dieses Artikels inspirierte, weil es das beste Sinnbild für die wehrhafte Demokratie ist, welches mir in den vergangenen 10 Jahren begegnete. ↩︎


Kommentare

3 Antworten zu „Demokratiebildung für Lehrkräfte: Alles ist politisch.“

  1. Ein wunderbarer Artikel, danke! Auch die Kindheit dürfte übrigens politisch sein. Autoren wie Sven Fuchs, der in „Die Kindheit ist politisch!“ die Biographien von Kriegstreibern analysiert hat, oder Franz Jedlicka, der einen statistischen Zusammenhang zwischen einer weit verbreiteten Gewalt gegen Kinder und Kriegen nachgewiesen hat (Die vergessene Friedensformel), bringen diesen eher vernachlässigten Zusammenhang erfreulicherweise ans Tageslicht ..

    Ursula

    1. Kristina Wahl

      Vielen lieben Dank – sowohl für das Lob als auch für den Lektüretipp! 🙂

  2. […] ich ja bereits erläutert habe, dass alles in der Schule prinzipiell politisch ist, fiel mir bei der Durchsicht der sehr breit aufgestellten Übersicht der Tagesschau zu den […]

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