Wenn ich in den letzten Tagen vor der Bundestagswahl auf der Startseite von Deutschlands größtem Lehrermarktplatz die gefeatureten Materialien zum anstehenden politischen Großereignis durchgesehen habe, musste ich heftig in eine Tüte atmen: Es will mir nicht in den Kopf, wie man demokratische Kompetenz mit einer Lückentextdidaktik aufbauen soll, die über Anforderungsbereich I nicht hinauskommt.

Demokratie besteht nicht aus richtig/falsch-Antworten, sie ist nicht gemütlich. Sie ist Streit und Kompromiss, sie verlangt Perspektivenübernahme, Verantwortungsbereitschaft und vor allem verlangt sie Ver- und Zutrauen in die anderen. Das kann man nicht mit Aufgaben, in denen es vor allem darum geht, sperrige Wörter „Richtlinienkompetenz“, „Koalitionsverhandlungen“ und „Subsidiaritätsprinzip“ auf viel zu schmale Zeilen zu quetschen, erreichen. Dafür braucht es unser vielfältiges politikdidaktisches Methodenrepertoire von der Positionslinie bis zur Fishbowl-Diskussion. Vor allem aber braucht es mehr Interdisziplinarität.

Wie ich mir das wünschen würde, habe ich gerade mit der ersten mathematischen Verfassungsviertelstunde beschrieben, welche im Dromedar-LMS veröffentlicht ist: Im Kern geht es darin um die Widerlegung der These, dass die AfD die Wahl im Osten gewonnen habe, mit dem Mittel der Prozentrechnung. Und weil ich mich für meine Verhältnisse in diesem Beitrag sehr kurz gefasst habe (es soll ja eine Verfassungsviertelstunde sein und ich will geneigte Mathematiklehrkräfte nicht verschrecken…), möchte ich an dieser Stelle im Blog dann doch noch ein paar Sachen dazu anmerken.

Nachdem ich ja bereits erläutert habe, dass alles in der Schule prinzipiell politisch ist, fiel mir bei der Durchsicht der sehr breit aufgestellten Übersicht der Tagesschau zu den Wahlergebnissen auf, wie oft wir eigentlich genau das tun müssten: Rechnen.

Schaut man sich die Diagramme nur bis zur zweiten Zeile an, bleibt man auf der Ebene der nackten Zahlen:

  • Wer hat wie viele Prozentpunkte errungen?
  • Wie viel Gewinn/Verlust entspricht das?
  • Wie viele Sitze im Bundestag ergeben sich daraus?
  • Welche Konstellationen sind möglich, um eine Regierungsmehrheit zu erhalten?

Meine Prognose wäre, dass die meisten Menschen über eine Suchmaschinenanfrage wie „Ergebnis Bundestagswahl 2025“ auf dieser Seite landen und jetzt bereits haben, was sie brauchen. Dabei wird es nun erst so richtig spannend, denn als nächstes tauchen wir in die Soziologie ein:

  • Wo wurde wer gewählt?
  • Wer wählte wen?
  • Wie viele Menschen haben sich diesmal entschieden, anders zu wählen als vor dreieinhalb Jahren?
  • Und: Welche Gründe waren ausschlaggebend für die Wählenden?

Aus diesem schier unerschöpflichen Diagrammkomplex stach in der Social-Media-Diskussion, die ich verfolgt habe, die regionale Verteilung der Erststimmen bzw. die Übersicht über die nach Mehrheitsprinzip vergebenen Direktmandate besonders hervor. Während diese nämlich an die Karten der US-Wahl erinnert, hat unsere Kombination aus Mehrheits- und Repräsentativsystem, bei dem die Zweitstimme maßgeblich für die Sitzverteilung ist, nämlich gar nicht mal so viel mit dem amerikanischen „The winner takes it all“ bei den Stimmen im Electoral College („Wahlmänner“) gemeinsam. Weil wir aber alle immer ein bisschen anfällig für einfache Lösungen, insbesondere Schuldzuweisungen sind, verstiegen sich in den Kommentarspalten einige schnell zu dem „Witz“, dass das Problem des hohen AfD-Wahlergebnisses durch eine Wiedererrichtung der Mauer zu lösen sei.

Abgesehen davon, dass ich es absolut nachvollziehen kann, wenn sich Menschen in Ostdeutschland 35 Jahre nach der Wiedervereinigung von solch populistischen „Maßnahmenforderungen“ gekränkt fühlen1, wäre es zu kurz gegriffen und würde in massiven Fehlschlüssen münden, diese Karte als Beweis eines rein im Osten Deutschlands bestehenden und von dort auf die Republik ausstrahlenden Problems zu betrachten.2 Das dahinter steckende soziologische Phänomen ist aber immerhin so interessant, dass sich die aktuelle „The Interpreter“-Ausgabe der „New York Times“ ihm zuwendet: Unter der Überschrift „How a demographic ‘doom loop’ helped Germany’s far right“ (Paywall) widmet sich Autorin Amanda Taub diesem Untersuchungsgegenstand und kommt zu dem Schluss, dass die AfD-Werte dort besonders hoch sind, wo die Abwanderungsquote am höchsten ist. Der „doom-loop“, also der Teufelskreis, ergibt sich daraus, dass etablierte Parteien den Regionen ebenfalls eher den Rücken kehren, was wiederum zu einem Vernachlässigungsgefühl in der dortigen Bevölkerung führt. Weil die Bevölkerung Deutschlands altert und auf Migration angewiesen ist, schließt ihre Analyse mit der düsteren Prognose, dass „der Osten“ bzw. das, was dessen überspitztes Negativbild ausmacht, bald überall sein könnte – und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in den sich abschottenden Industrienationen.

Macht und Selbstermächtigung in der Schule

Warum diese soziologische Abhandlung, wenn es doch eigentlich nur um einen kleinen Impuls für eine mathematische Verfassungsviertelstunde gehen sollte?

Einerseits steckt hinter all dem die Frage nach Macht. In einer nach wie vor prominent westdeutsch besetzten Deutungshoheit der Medien- und Politiklandschaft hängt die Perspektivenübernahme für „die Ostdeutschen“ nach wie vor massiv von der Sensibilisierung der Beteiligten ab. Aber Aufmerksamkeit über Wählerstimmen ist aufgrund des Verhältnisses der Wählerstimmen (ca. 20% Ost vs. 80% West) nicht leicht zu erreichen. Dass radikale Maßnahmen im weitesten Sinne, worunter wohl auch vermeintliches Protestwählen fällt, dagegen eher Aufmerksamkeitsgewinn versprechen, zeigt das Beispiel der ungleich verteilten Sendezeit für Klimaschutzforderungen, wo Suppe-Auf-Gemälde-Werfen und Auf-Die-Straße-Kleben weniger Protagonisten verglichen mit dem Fridays for Future-Protest von Hunderttausenden bis Millionen für ungleich mehr mediale Empörung gesorgt hat. (Auch hier wurde der Sache letztlich ein Bärendienst erwiesen.)

Ich will an dieser Stelle „Klimakleber“ und AfD-Wähler*innen nicht gleichsetzen, im Gegenteil: Während die einen in der Lage sind, ihrem Anliegen außerparlamentarisch Aufmerksamkeit zu verschaffen, treffen andere eine politische Entscheidung, die gesamtgesellschaftliche Auswirkungen hat und gleichzeitig das eigentliche Problem gar nicht adressieren wird, denn die Partei ist nicht dazu angetreten, den Mindestlohn anzuheben, Preissenkungspolitik zu betreiben oder die Bildung zu verbessern. Denn davon, dass man Menschen aus dem Land wirft, bessert sich nichts davon. Das sind zwei völlig verschiedene Kategorien politischen Handelns.

Wir haben es hier also mit einem gesellschaftspädagogischen Problem mangelnder Selbstermächtigung zu tun, welches in einer steigenden Anzahl rassistischer Übersprungshandlungen (als Erklärung, nicht als Verharmlosung!) Gift in der Gesellschaft verspritzt und damit mit einem Faktum, dem wir Lehrkräfte unsere Aufmerksamkeit zuwenden und im Rahmen unserer Möglichkeiten gegensteuern sollten, weil wir einen Erziehungsauftrag, aber auch einen Schutzauftrag haben.3

Wie bereits erwähnt, kann dieser Prozess früher oder später zu einem Problem aller Industrienationen werden. Außerdem wissen wir: Einer Gruppe anzugehören, die zahlmäßig groß genug ist, um im Fokus regierender politischer Parteien zu stehen, ist gar nicht mal so einfach. Als Frau wird man das im neuen Bundestag wieder erfahren.4

Und eben dafür brauchen wir einen interdisziplinären Ansatz, um die Bürger*innen einer solidarischen und zukunftsfesten Gesellschaft auszubilden: Die freie Gesellschaft unterscheidet sich von der unfreien nicht zuletzt darin, dass ihr Ideal der Mensch ist, der über genügend Bildung verfügt, um sich selbst proaktiv in die Gemeinschaft einzubringen und diese voranzubringen, statt eines Untertanen, der bereitwillig Macht über sich ausüben lässt in Unkenntnis seiner angeborenen und unveräußerlichen Menschenrechte.

Der Beitrag, den die Mathematik5 leisten müsste, ist dabei nicht zu unterschätzen, wir brauchen nämlich ein vertieftes Verständnis so vieler Konzepte und ich nenne zum Schluss dieses Posts nur ein paar weitere Fragen neben der, die mich heute im Beitrag zur Verfassungsviertelstunde umgetrieben hat… vielleicht möchte ja die eine oder der andere unter euch ein bisschen mit den Schüler*innen mir rechnen:

  • Welches Gewicht hat eine einzelne Stimme bei einer Wahl?
  • Wie ändert sich das Gewicht, wenn weniger Leute wählen?
  • Wie groß ist die gesellschaftliche Gruppe, der ich mit meinem Anliegen angehöre und in welchem Verhältnis steht sie zu Gruppen mit gegnerischen Interessen?
  • Wie würde sich das Stimmgewicht von Familien verändern, wenn Eltern eine Stimme für ihre minderjährigen Kinder abgeben dürften?
  • Wie viele Prozentmille der Bevölkerung kommen jemals in den Genuss, diese parlamentarisch repräsentieren zu dürfen?
  • Wie hoch ist dagegen der Prozentsatz von Menschen, die sich in Parteien engagieren?
  • Welche mathematischen Auswirkungen kann ein veränderter Zuschnitt von Wahlkreisen in einem Mehrheitswahlsystem haben6?
  • Wie groß oder klein sind Minderheiten wirklich? Wie viel Sendezeit müssten die Medien verwenden, um diese angemessen zu repräsentieren (bzw. wie müssten Casts von Fernsehserien aussehen) und wie ist es wirklich?

Wenn wir damit durch sind, können wir uns auch wieder unseren soziologischen und politischen Lieblingsfragestellungen widmen: Den vielen Warums, dem Aufstellen von Thesen und Theorien und dem Formulieren von Maßnahmen, was jetzt dringend getan werden müsste. Bis dahin aber gilt: Get your facts straight. Denn wir eins aus diesem Wahlkampf gelernt haben sollten, dann ist es, dass wir selber die Dummen sind, wenn man in unserer Gesellschaft lügen darf, ohne bestraft oder gar nur gefactchecked zu werden.

Ich freue mich über euer Feedback!

Alles Liebe

Kristina

  1. Insbesondere dann, wenn sie von Menschen kommen, die anderswo Remigrationsforderungen kritisieren…Let that sink in. ↩︎
  2. Nicht nur Donald Trump liebt die „poorly educated“, sondern auch jeder AfD-Politiker, der seine Chancen auf mehr Stimmen steigen sieht, weil sich potenzielle Wähler*innen durch solche als Diffamierung empfundenen Angriffe bestätigt sehen können. #Trotzreaktion ↩︎
  3. Außer natürlich uns gefällt die Vorstellung, unsere eigene Rente in einem von Abwanderung geprägten Landstrich zu verbringen und in Ermangelung einer Pflegekraft des Endes zu harren. ↩︎
  4. Sprach sie voller Zynismus, nachdem der Frauenanteil im 21. Bundestag zurückgegangen ist, während das Durchschnittsalter gestiegen ist und die CDU/CSU-Spitzen mit einer reinen Männerrunde zur Vorbesprechung der Koalitionsverhandlungen angetreten sind. ↩︎
  5. Wenn auch in ihren elementareren Formen wie Grundrechenarten, Auswertung von Statistiken und Prozentrechnung und nicht in Kurvendiskussionen & Co. – aber vielleicht gibt es dafür ja auch Anwendungsbereiche? Klärt mich gerne auf! ↩︎
  6. Vgl. gerrymandering ↩︎


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