Bob Blume hat zur Blogparade aufgerufen und auf den ersten Blick mag es verwundern, dass er sich Beiträge der digitalen Lehrercommunity zum Thema „Tafelanschriebe“ erhofft, während die Medien landauf, landab das „Ende der Kreidezeit“ aufrufen und auch in Bayern gerade Finanzmittel für Smartboards angekündigt wurden.
Die Kreidetafel und die Kreidefinger mögen vielleicht in den nächsten Jahren von der Bildfläche verschwinden, die Idee des Tafelbildes dagegen halte ich für weitaus zeitloser, weswegen ich diesem Thema, bevor ich noch ein paar Anmerkungen dazu mache, einfach mal ein Tafelbild widmen möchte:
Tafelbilder – Ein Kompass im Dschungel einer Einzelstunde
Mir geht es beim Tafelbild darum, auch die abstraktesten Unterrichtsinhalte durch Visualisierung greifbar und damit den gemeinsamen Lernprozess sichtbar zu machen, aber auch den SuS eine Gedächtnisstütze an die Hand zu geben, die sie verwenden können, um den Unterrichtsinhalten wieder auf die Spur zu kommen, wenn die Erinnerung an die Stunde selbst langsam verblasst. Daher müssen sich Verknappung und Eindeutigkeit die Waage halten, um einerseits möglichst wenig Zeit mit Auf- und Abschreiben zu verwenden, andererseits sollte es auch ein paar Wochen nach der Stunde noch möglich sein, mit wenig Aufwand deren Inhalt zu erfassen, um sie anhand der Notizen zumindest in ihren Grundzügen zu rekapitulieren.
Wer einschlägige Tafelbild-Sammlungen großer Verlage kennt, weiß, dass sich dort auch immer wieder solche Tafelbilder finden lassen, bei denen allein das Abschreiben mit der angegebenen Jahrgangsstufe eine ganze Schulstunde dauert. Daher sollte man sich beim Konzipieren von Stunden mit Tafelanschrieben bewusst sein, dass man Gefahr laufen kann, „die Weiterführung des 10G-Unterrichts“ zur praktizieren, wenn der Unterricht zu sehr am Tafelbild im klassischen Sinne ausgerichtet wird, das nur allgemeinverbindliche Ergebnisse der Stunde abbildet oder den Erwartungshorizont für die Abfrage der nächsten Stunde bildet. Vereinfacht gesagt: Wenn der Wortlaut und die Anlage des Tafelanschriebs 1:1 mit der Konzeption der Lehrkraft übereinstimmen, sollte kritisch hinterfragt werden, ob die anwesenden SuS in seine Erarbeitung einbezogen wurden und in der Stunde diejenigen waren, die den Lernprozess vollzogen haben oder ob es das Schwierigste für sie sein wird, den eifrig abgepinselten Hefteintrag als Hausaufgabe auswendigzulernen.
Binnendifferenzierung, Individualisierung und offene Lernformen bekommen ein immer größeres Gewicht im Unterricht und mit Sicherheit sind sie ein wichtiger Grund, weswegen Tafelbilder in meinem Unterricht eine geringere Rolle spielen als zu meiner eigenen Schulzeit, denn es gibt zahlreiche andere Formen, Ergebnisse aus einer Stunde „mitzunehmen“. Das heißt aber nicht, dass ich Tafelbilder geringschätzen würde, denn wenn wir über Individualisierung sprechen, müssen wir auch immer die Individuen in den Blick nehmen – und auch wenn sie ganz schöne Schlaufüchse sind, können sie im Dschungel einer 45-Minuten-Stunde das dynamische Tafelbild als Kompasssehr gut gebrauchen, denn sie brauchen vor allem eins: Orientierung während des Lernprozesses. Tafelbilder helfen dabei, zu wissen, wo man gerade ist oder Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, sie schlagen eine Bresche in die Flut aus Wörtern, die den SuS in jeder einzelnen Stunde um die Ohren gehauen wird, sie verschaffen die Gelegenheit, genauer nachzufragen als mit einem „Ich hab das nicht verstanden! Ich komm nicht mehr mit!“ und sie verschaffen ihnen den Eindruck, dass sie eine Chance haben, das Wesentliche im Nachgang erneut zu durchdenken, auch wenn ihnen während der Stunde der Kopf rauchte.
Solange SuS sich an Prüfungen messen müssen, die für alle Mitglieder einer Klasse die gleichen Anforderungen bereitstellen, haben sie verständlicherweise das Bedürfnis nach allgemeinverbindlichen Aussagen, an denen sie sich nicht nur im Unterricht, sondern darüber hinaus in der Prüfungsvorbereitung orientieren können. Ich beobachte immer wieder, dass das eigenhändig (Ab-)Geschriebene dabei einen deutlich höheren Stellenwert hat als Arbeitsblätter, die ich austeile, was mich deswegen freut, weil die SuS dadurch das Produkt des gemeinsamen Lernprozesses höherschätzen als das von mir (Niedergeschriebene und) Kopierte. Solange der Unterricht (als Sequenz betrachtet) von einer bunten didaktischen Mischung lebt, in der offene Formen und der freiere Erkenntnisgewinn von SuS eine wichtige Rolle spielen, halte ich das Tafelbild auch in seiner klassischen Entstehungsform während eines Unterrichtsgesprächs für ein probates Mittel, um SuS an einem Punkt „einzusammeln“ und wieder zusammenzuführen.
Ein „gelungenes“ Beispiel
Bob hat nach einem Tafelbild gefragt, das mir in positiver Erinnerung geblieben ist und *natürlich* hätte ich formvollendete Entwürfe zu bieten, in denen die Industrialisierungsfaktoren als Waggons einer Dampflok oder der 1. Weltkrieg in einer Sketchnote (sehr grob) zusammengefasst sind… aber um ehrlich zu sein, erinnere ich ich bei diesen Tafelbildern abgesehen von der herausragenden Optik (auf meinem Entwurf ) vor allem an überforderte SuS, die nicht mehr in der Lage waren, dem Unterricht zu folgen, weil sie damit beschäftigt waren, eine Dampflok zu zeichnen und zu beschriften oder meine an der Tafel weniger eindeutigen Sketchnote-Bemühungen zu interpretieren („Hat sie da jetzt einen Menschen gemalt oder eine Birne?“)…
Stattdessen habe ich mich für ein Foto eines auf den ersten Blick sehr „langweiligen“ textlastigen Tafelbildes entschieden, das im vergangenen Schuljahr in einer meiner siebten Klassen in Deutsch entstanden ist. In Stunden direkt vor einer Schulaufgabe gehe ich zwar auch mit Material, wichtiger ist es mir aber, dass die Fragen der SuS geklärt werden – und wenn die Vorbereitung bis zu diesem Zeitpunkt in Ordnung war, dann sollte sich das Material, mit dem man in einer solchen Stunde arbeitet, schon in den Köpfen der SuS befinden. Die Besonderheit dieser Klasse war, dass sie eine Traumklasse für offene Unterrichtsformen waren, denn immer wenn sie sich mit Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit beschäftigen konnten, waren sie hochmotiviert und mit Eifer bei der Arbeit – im Unterrichtsgespräch (UG) hingegen hatte ich oft das Gefühl, Chinesisch zu sprechen oder ihre Aufmerksamkeit schneller zu verlieren, als ich „Schriftliche Stellungnahme“ sagen konnte. Dementsprechend hatten wir in dieser Unterrichtseinheit viel mit offenen Formen gearbeitet, die Klärung von Fragen in der Stunde vor dem angekündigten Test mache ich aber aus Prinzip lieber im UG, damit alle die Chance haben, alles mitzubekommen, was besprochen wird, ich war mir also nicht sicher, ob diese Stunde so erfolgreich verlaufen würde, wie ich es mir vorstellte.
Nachdem wir die breit gestreuten Fragen gesammelt hatten, beschlossen wir, die Textteile noch einmal durchzugehen, um möglichst allen gerecht zu werden. Das Tafelbild diente also vor allem als Protokoll der gemeinsamen Rekapitulation und rahmte die vorangegangene Unterrichtseinheit, indem wir während der Stunde immer wieder Querverweise auf andere Stunden schufen. Ich mag dieses Tafelbild vor allem deshalb, weil es nicht-vorgeplant, sondern aus der Arbeit mit den SuS in der Stunde entstanden ist und weil es zeigt, dass Tafelbilder ein hervorragendes Medium sind, um gemeinsam Zusammenhänge „aus dem Nichts“ zu erarbeiten. Sie waren extrem motiviert bei der Sache, weil sie den Eindruck bekamen, alles zu wissen, was notwendig ist – es aber gemeinsam systematisieren zu müssen. Die Tafel ist nämlich zu Beginn einer Stunde (hoffentlich) leer – weswegen sie eine ideale Grundlage darstellt, um einen offenen Unterrichtsprozess anzustoßenund nicht (z.B. durch ein vorbereitetes Arbeitsblatt) zu signalisieren, dass das Ergebnis der Stunde ohnehin vorgegeben ist.
„Dienen lange Tafelanschriebe nicht vielmehr der Illusion, dass es immer „richtige“ Antworten gibt?“ hat Bob gefragt und ich möchte die Frage herumdrehen: Brauchen wir nicht in vielen Fällen erst einmal „richtige“ Antworten (in Form von gewonnenem Wissen als Zwischenergebnis), um auf deren Basis weiter nachzudenken, Vertiefungen durchzuführen und gemeinsam zu höherer Erkenntnis zu gelangen? Auch das Finden richtiger Antworten ist Teil eines Lernprozesses – vielleicht auf einer weniger anspruchsvollen Ebene. Gleichzeitig kann ein Tafelbild ein hervorragender Indikator dafür sein, ob man auch die schwierigeren Aufgabenstellungen ausreichend berücksichtigt oder sich im Kleinklein der Faktenpräsentation verloren hat.
Die wichtigsten Symbole, die meine SuS kennenlernen, sind der dicke Folgepfeil, der Blitz und das Warnschild: Sind eine Stunde (und das Tafelbild ^^) gelungen, dann gibt es nicht nur „richtige“ Antworten, sondern auch (dicker Folgepfeil) weiterführende Erkenntnisse, die wir durch Nachdenken über den Unterrichtsgegenstand auf deren Basis gewonnen haben. Und wenn wir richtig, richtig gut waren, dann haben wir (der Blitz) sogar eine Kontroverse diskutiert oder (das Warnschild) ein schwieriges Problem auf dem Lernweg gelöst und uns das aufgeschrieben, damit uns an die unterschiedlichen, aber gerechtfertigten Positionen erinnern oder uns der gleiche Fehler nicht noch einmal passiert.
Und wenn eine Stunde mal nicht in Schwung kommen will, obwohl es ein spannendes Thema ist? Dann bleibt – Tafelbild sei Dank – immer noch Trick 17: Als Lehrer beim Erstellen des Tafelanschriebs bewusst einen Fehler zu machen, den dann auch die SuS verbessern müssen, führt zwar einerseits zu genervtem Stöhnen, andererseits sind dann aber auch alle wach, da betroffen: Gibt es einen besseren Ausgangspunkt, um zu thematisieren, warum *sogar* die *allwissende* Lehrkraft an dieser Stelle gestolpert ist? Und kann man SuS mit einem größeren Erfolgserlebnis nach Hause gehen lassen, als die Lehrkraft konstruktiv verbessert zu haben?
Ein ideales Tafelbild…
…gibt es nicht. Zumindest nicht – wie es einschlägige Tafelbild-Sammlungen suggerieren – als Patentrezept zum 1:1-Übernehmen mit Gelinggarantie. Ein gelungenes Tafelbild ist das Produkt einer gelungenen Unterrichtsstunde – und nicht ein unter Idealbedingungen am heimischen Schreibtisch künstlerisch hergestellter Entwurf. Es ist das Protokoll eines gemeinsamen Lernprozesses – ein „Storyboard“ einer Stunde, wenngleich deren Bestandteile je nach Bedeutung stärker oder weniger stark berücksichtigt werden.
Ein gutes TB verbindet meiner Meinung nach die losen Endeneiner abgeschlossenen Stunde zu einem großen Ganzen. Das Konzept der Lehrkraft ist durchdacht, aber flexibel, schließlich soll nicht ihr eigener Lernprozess, sondern der der SuS abgebildet werden. Im Idealfall wirken diese also nicht nur an den Inhalten, sondern auch an der Darstellungsform mit oder diskutieren zumindest kritisch darüber, ob die durch die Lehrkraft geplante passend ist. Ein Tafelbild kann meiner Meinung nach immer nur in dem Maße gelungen sein, wie die SuS an seiner Entstehung beteiligt bzw. in seine Nutzung als Lernmittel eingeführt werden.
Wie viel SuS wirklich am Medium „gelungenes Tafelbild“ lernen können, sieht man umso besser, wenn sie es selbst aus den Arbeitsmaterialien einer Stunde erstellen sollen: Aus ihren eigenen Notizen (meine Erfahrung: ellenlange Stichpunktlisten) einen eindeutigen Tafelanschrieb zu formulieren, der von den Klassenkameraden innerhalb der vorgegebenen Zeit abgeschrieben werden kann, verlangt von ihnen, Inhalte neu zu bewerten und Darstellungsformen kritisch zu prüfen – eine Erfahrung, die ich sie nur zu gerne machen lasse, weil sie nicht nur meine Vorarbeit danach mehr zu schätzen wissen, sondern auch viel für ihr selbstständiges Arbeiten lernen.
Ausblick: Die Grenzen der Kreidetafel überwinden
Ich wäre sehr traurig, die Kreidetafel zu verlieren, denn ihre schlichte Präsenz jenseits des medialen Brimboriums von Whiteboards und Tablets ermöglicht eine Konzentration auf das Miteinander im Lernprozess, auf das Geschehen statt auf die Medien, die schwieriger beizubehalten ist, je mehr Technik beachtet und bedient werden will. Gleichzeitig bietet ein Tafelbild mir von Hypermedia verwöhntem Nerd aber manche Möglichkeiten nicht, die faszinierend und erleichternd wären.
Ich träume also davon, dass wir irgendwann (neben klassischen Tafelbildern) regelmäßig digitale Tafelbilder machen können, an denen die SuS direkt kollaborativ mitarbeiten und die es beispielsweise ermöglichen, durch Verlinkungen direkte und eindeutige Bezüge zu unterstützenden oder weiterführenden Materialien herzustellen. Damit Unterrichtsstunden in ihrem Verlauf inklusive Materialien besser nachzeichnen zu können, wäre meiner Meinung nach eine tolle Möglichkeit, um den SuS dabei zu helfen, Lernwege erneut nachzuvollziehen und auch Unterrichtsstunden, die durch eine Mischung aus Unterrichtsgespräch und Arbeitsphasen geprägt wurden, besser rekapitulieren zu können – denn auch die Ermöglichung dieser Art der Nachbereitung würde letztlich der Individualisierung dienen. Bis dahin wird es an geeigneter Stelle ein Verweis, eine oldschool OHP-Folienschnipsel-Aktion oder ein (mit echtem Kleber) eingeklebter QR-Code richten müssen…
Anmerkung: Wie Marc dankenswerterweise ergänzend angemerkt hat, gibt es die Möglichkeit des kollaborativen Whiteboards bereits (http://www.baiboard.com/) – hätten die SuS die nötige Ausstattung, könnte man also sofort loslegen.
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