Der Kongress tanzt – Ein Live-Rollenspiel zum Wiener Kongress 1814/15

[Die Schรผler:innen] werten anhand eines erweiterten vorgegebenen Kriterienkatalogs eine Geschichtskarte aus, um die territorialen Verhรคltnisse in Mitteleuropa nach dem Wiener Kongress 1815 zu beschreiben und Rรผckschlรผsse auf die machtpolitischen Verhรคltnisse in Deutschland und Europa zu ziehen. Sie stellen ihre Erkenntnisse mรผndlich oder schriftlich in einer zusammenhรคngenden Narration dar.

Aus dem aktuellen Geschichts-Lehrplan fรผr die 8. Klasse

Wenn ich an meine eigene Zeit als Achtklรคssler:in zurรผckdenke, dann ist eine Geschichtskarte so ungefรคhr das letzte Objekt, das mir aus dem Stand zu einer zusammenhรคngenden Narration verholfen hรคtte. Dass da gelbe Flรคchen an roten Linien auf blaue Flรคchen stieรŸen, taugte fรผr mich รคhnlich wenig als Grundlage fรผr eine anschauliche Erlebniserzรคhlung wie Valenzstrichformeln oder Baumdiagramme. Als ich also wegen der Kompetenzen, die ich bei meinen aktuellen Schรผler:innen anbahnen soll, den Lehrplan konsultierte, blieb mir kurz die Spucke weg, denn ich sah mich schon

„Arbeitsauftrag: Verfasse auf der Basis der Schlagwรถrter Wiener Kongress – Restauration – Territoriale Neuordnung eine Reizwortgeschichte. Wenn du es schaffst, auรŸerdem Mediatisierung und Pentarchie unterzubringen, bekommst du Bonuspunkte.“

an die Tafel schreiben und hilflose Blicke ernten, denn wenn das Entwickeln von Narrationen sogar fรผr Oberstufenschรผler:innen auf der Basis von Bildquellen noch eine Herausforderung darstellen kann, dann bedarf es bei Achtklรคssler:innen ganz bestimmt noch ein paar Hilfestellungen.

*Das ist natรผrlich nur SpaรŸ. Im Jahr 2022 schreibe ich nicht mehr an die Tafel, sondern konsequent ins iPad.

Es war also hรถchste Zeit, die Kรถnigsdisziplin der historischen Narration wiederzubeleben: Den Lehrervortrag!

Lehrervortrag auf den Kopf gestellt

Habt ihr beim letzten Wort auch so frenetisch gejubelt? Ich mรถchte ja keinem Fan des Lehrervortrags auf den Schlips treten, aber in meinem Unterricht gilt schon seit dem Referendariat, dass das Kรผrzel „LV“ im Stundenverlaufsplan nur im รคuรŸersten Notfall zum Einsatz kommt. Das hat mehrere Grรผnde – allen voran, dass ich mich gar nicht mal so gern reden hรถre, wie es unserer Profession รผblicherweise nachgesagt wird, und dass ich ein ausgesprochenes Konstruktivismus-Fangirl bin (sofern es der straffe Zeitplan zulรคsst).

Abgesehen davon habe ich mal eine einzige Stunde bei Michael – einem absoluten Meister des Lehrervortrags, die Sechstklรคssler:innen hingen seinerzeit 2016/17 nur so an seinen Lippen – Mรคuschen spielen dรผrfen und seitdem weiรŸ ich, dass es Dinge geben darf, die man denen รผberlรคsst, die wirklich dafรผr gemacht sind.

Nachdem meine Mittel fรผr das Engagement eines mitreiรŸenden Vortragsredners leider begrenzt sind, beschloss ich, dass dann einfach mal die Schรผler:innen vortragend ran dรผrfen, aber eben nicht in Form von Lernen durch Lehren oder der weithin รผblichen Vorstellung von Arbeitsergebnissen, sondern als Schauspieler:innen, die spontan in die Rollen von Zeremonienmeistern, Gesandten und Beobachtern schlรผpfen, um den Wiener Kongress auf der Bรผhne bzw. vor dem Whiteboard zu einer Auffรผhrung zu verhelfen.

ร„hnlich wie in gewissen Formaten, an denen sich Menschen mit zu viel Tagesfreizeit im linearen Fernsehen erfreuen kรถnnen #ScriptedReality, waren ihre Redebeitrรคge maximal gescripted (in anderen Worten: sie haben vorgelesen, was auf ihren Karten stand) – dafรผr hatten sie aber auch maximale Freude an dem, was sie taten, denn auch wenn nur wenige von ihnen bereits Theater-Erfahrung hatten, war dieses Format einfach fรผr sie (und nicht fรผr mich) gemacht.

AuรŸerdem: Was bietet sich besser fรผr ein kleines Theaterstรผck an als der Kongress, bei dem die zahlreichen Teilnehmenden mit unterschiedlichste politische Ziele verfolgten, wรคhrend die Veranstaltung von auรŸen hauptsรคchlich als „Jahrmarkt“ oder nicht enden wollender Ball wahrgenommen wurde?

Der Ablauf

  • Kurze Einfรผhrung: Thema & Vorhaben nennen
  • Rollenverteilung:
    • Mรถglichst allen Schรผler:innen eine eigene Rolle zukommen lassen, bei mehr als 19 Schรผler:innen lรคngere Texte aufteilen oder – insbesondere bei Lernenden, die ungern vor der Klasse sprechen/auftreten: Protokollfรผhrer:innen benennen oder jemanden fรผr den Kulissenwechsel (Prรคsentation) einspannen
    • Es hilft besonders, bereits beim Verteilen der Karten zu verbalisieren, ob eine Rolle in bestimmter Stimmung ist (Beispiel: Metternich hat Puls) und sie positiv anzupreisen, denn: Alle kรถnnen SpaรŸ machen, auch wenn manche mehr Spielpotenzial bieten als andere, weil sie ins Gesamtbild eingebettet sind.
  • Studierzeit: 5 Minuten, um den Text kurz รผben zu lassen & sich der Rolle bewusst zu werden
  • Orientierung: Die Personen mit den Karten vor & nach dem eigenen Auftritt suchen, um Sicherheit zu haben, wann man dran ist. Nochmal auf Regieanweisungen hinweisen, damit auch ans Weitergeben gedacht wird.
  • …und Action: Der erste Durchlauf war in meiner Lerngruppe kein bisschen chaotisch (sie hatten sich in der Orientierungsphase super organisiert und das Weitergeben sehr ernst genommen), aber es ging deutlich zu flott. Ich denke, das ist normal oder zumindest nicht ungewรถhnlich, wenn man es zum ersten Mal macht, weil sich ja auch eine gewisse Dynamik entwickelt und alle wollen, dass es weitergeht. Deswegen braucht man die…
  • … Rekapitulationsphase: Alle verorten die eigenen Informationen im Protokoll & sehen sich auch nochmal bei den Umsitzenden um. Wer noch viel Zeit hat, kann diese Phase ausdehnen und am Schluss schnell abhaken. Man kann aber natรผrlich auch die Protokollant:innen nacheinander um ihre Notizen bitten und diese gemeinsam verbessern (wenn diese eine echte Chance hatten, mitzukommen) oder im Gesprรคch die Verantwortlichen fรผr die einzelnen Parts nochmal um Wiederholung bitten.

Material

Das PDF zum Durchblรคttern

  • Folie 1-19: Textfolien fรผr die Schรผler:innen zum Vorlesen
  • Folie 20-29: Prรคsentationsfolien als Hintergrund/Illustration fรผr das Rollenspiel
  • Folie 30: Vorlage fรผr die Sicherung
  • Folie 31: Lizenzhinweise

Download

Zum Download aller Dateien im Dromedar-Drive (Externer Link zu GoogleDrive)

Fazit

Wir machen das jetzt รถfter. Warum?

  • Weil es gar nicht mal so ineffizient ist, Inhalte in einem geskripteten Vortrag durch die Schรผler:innen vermitteln zu lassen? Vielleicht.
  • Weil es ihnen SpaรŸ gemacht hat, Schlagwort „Machen wir das jetzt รถfter?“ Auf jeden Fall.
  • Weil sie allein durch diese รœbung aus einer Geschichtskarte in eine Narration einbetten kรถnnen? Das sicher nicht. Aber sie haben durch ihre eigene Performance zumindest eine bessere Vorstellung davon gewonnen, welch ein buntes Durcheinander an Interessen mit den Linien und Farben auf der Landkarte verknรผpft ist. Darauf kรถnnen und werden wir aufbauen.

Disclaimer fรผr Historiker*innen mit Schnappatmung

Abgesehen von den drei Zitaten zur Wahrnehmung des Kongresses von auรŸen sind die Redebeitrรคge natรผrlich *nicht* authentisch, sondern eine Form der didaktischen Reduktion. Deal with it (or do your own Lehrervortrag).

Eine Antwort zu „Der Kongress tanzt – Ein Live-Rollenspiel zum Wiener Kongress 1814/15“

  1. Ich kann nicht beurteilen, wie sich das im Unterricht einsetzen lรคsst, ist nicht mein Fach. Und ich weiรŸ nich, wie man die Inhalte sonst unterbringt – distanzierterer Vortrag, Tafelbild, Buchtexte lesen lassen? Aber ich kann mir vorstellen, dass so mehr hรคngen bleibt, und selber habe ich auf jeden Fall gelernt daraus! (Hab’s mir mal als Methode notiert, fรผr den Fall, dass sich bei meinen Fรคchern mal ein passender Inhalt auftut.)

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